Ökumenische Expertengruppe

zum österreichischen Verfassungs-Konvent

 

Vorschlag eines Artikels

über die individuelle Religionsfreiheit

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Absatz 1

 

Jeder Mensch hat ein Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder Weltan­schauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Ge­meinschaft mit anderen öffentlich oder privat zu bekennen und durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Bräuche auszuüben.

 

 

Absatz 2

 

Die Gewissens- und Religionsfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.

 

 

Absatz 3

 

Wehrpflichtige können erklären, Zivildienst leisten zu wollen, falls sie die Wehr­pflicht aus Gewissensgründen nicht erfüllen können.

 

 

MOTIVE:

 

In Absatz 1 wird die Bestimmung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit normiert.

 

Bei der Formulierung wurde auf die Bestimmung Artikel 14 Staatsgrundgesetz 1867 die Bestimmung des Artikel 63 Absatz 2 des Staatsvertrages Saint Germain vom 10. September 1919, StGBl. Nummer 303/1920, Artikel 9 der Europäischen Menschen­rechtskonvention vom 4. November 1950, BGBl. 210/1958, sowie auf Artikel II-10 des Verfassungsentwurfes der Europäischen Union in der Fassung von 20. Juni 2003 Bedacht genommen.

 

Der Ausdruck „jedermann“ in Artikel 14 StGG und Artikel 9 EMRK und „jede Person“ in Artikel II-10 des Verfassungsentwurfes EU wurde durch den Ausdruck „jeder Mensch“ ersetzt. Der Ausdruck „jedermann“, wiewohl er sich sowohl in der österreichischen Bundesverfassung als auch in der europäischen Menschenrechts­konvention findet, ist, wie man schon aus der Diskussion zum Verfassungsentwurf der EU weiß, nicht mehr konsensfähig.

 

„Jede Person“ schließt hingegen sowohl natürliche als auch juristische Personen in sich, Religionsausübung, Gedanken- und Gewissensfreiheit ist jedoch nur für natür­liche Personen, also für Menschen, denkbar. Es wurde daher dem Begriff „Mensch“ der Vorzug gegeben. Außerdem ist der Begriff „Person“ bezüglich des Zeitpunktes, in welchem ein Mensch als Person anzusehen ist, strittig, wie auch die Diskussion zum Konventsentwurf der EU deutlich gemacht hat. Aus diesem Grunde wurden auch im Grundrechtskatalog des Konventsentwurfes der Begriff „Person“, welcher ursprünglich Verwendung gefunden hatte, durch den Begriff „Mensch“ ersetzt.

 

Zur Klarstellung wird bemerkt, dass mit dem Ersatz des Wortes „Person“ nicht der Persönlichkeitsbegriff geringgeschätzt werden soll, sondern lediglich die juristische Person als Adressat des Grundrechtes ausgeschlossen werden muss.

 

Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit auch auf Weltanschauungen auszu­dehnen, gebietet sowohl Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch Artikel II-10 des Verfassungsentwurfes EU.

 

Die öffentliche Ausübung und das öffentliche Bekenntnis entspricht einerseits einer­seits der MRK (Ausübung), andererseits dem Verfassungsentwurf EU (Bekenntnis). Da „bekennen“ und „ausüben“ verschiedene Begriffe sind, ein Bekenntnis kann auch ohne Ausübung einer Religion oder Weltanschauung abgelegt werden, war es nach An­sicht des Verfassers notwendig, beide Begriffe in den Entwurf aufzunehmen.

 

Absatz 2 des Entwurfes wurde im Großen und Ganzen aus Artikel 9 Absatz 2 EMRK übernommen, mit dem Unterschied, dass die Begriffe „Religions- und Bekenntnisfrei­heit“ durch „Gewissens- und Religionsfreiheit“ ersetzt wurden. Diese Ersetzung ent­spricht dem Erstentwurf für den österreichischen Verfassungskonvent.

 

Der Entwurf des sozialdemokratischen Grundrechtsforums spricht in seinem Artikel 15 Absatz 3 davon, dass „niemand zur Teilnahme an religiösen Handlungen oder Feierlichkeiten sowie zur Offenlegung seiner religiösen Überzeugung gezwungen werden kann.“
Diese Einschränkung ist nicht nur überflüssig, sondern auch irreführend, insofern sie nämlich von der Offenlegung der religiösen Überzeugung spricht. Zwar ist das Religionsbekenntnis nach den Bestimmungen des Datenschutz­gesetzes 2000 ein sensibles Datum, jedoch ist die Bekanntgabe des Religionsbe­­kenntnisses für den konfessionellen Religionsunterricht und auch für den staatlichen Beistand an die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften bei der Hereinbringung der Kirchenbeiträge unbedingt notwendig. Dagegen spricht auch nicht die Datenschutzrichtlinie der EU und auch nicht das DSG 2000, da die Verwendung auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgt.

Der Ablehnung des Zwanges zur Teilnahme an religiösen Handlungen oder Feierlich­keiten ergibt sich schon aus dem neu formulierten Absatz 2, da die Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit nur aus den Gründen des „ordre public“ ermöglicht wird.

 

Absatz 3, welcher die Wehrdienstverweigerung behandelt, ist auf Grund der Be­stimmung Artikel II-10 Absatz 2 des Verfassungsentwurfes EU notwendig, da dieser Artikel auf die einzelstaatlichen Gesetze verweist, welche die Ausübung des Rechtes auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen regeln.

 

Da die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen der österreichischen Rechts­ordnung bereits immanent ist, war geboten, die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen mit in die Bestimmung über die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit mit aufzunehmen.

 

 

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Vorschlag eines Artikels

über die kollektive Religionsfreiheit

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Absatz 1

 

Jede anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat in Österreich Rechtspersönlich­keit und genießt die Stellung einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Sie ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig.

 

 

Absatz 2

 

Anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften sind berechtigt, mit der Republik Österreich zur Regelung ihres Verhältnisses zum Staat Verträge abzuschließen.

 

 

Absatz 3

 

Anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften haben das Recht, innerhalb ihrer Autonomie Einrichtungen mit Rechtspersönlichkeit für den staatlichen Bereich zu gründen, zu verwalten und aufzuheben. Sie sind berechtigt, zur Deckung ihres Personal- und Sachbedarfes von ihren Mitgliedern Beiträge einzuheben.

 

 

Absatz 4

 

Anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften genießen den Beistand des Staates.

In Anerkennung der Identität und des besonderen gesamtstaatlichen Beitrags der aner­kannten Kirchen und Religionsgesellschaften pflegt der Staat einen offenen, trans­parenten und regelmäßigen Dialog mit ihnen zu allen grundsätzlichen Entwicklungen staatlicher Tätigkeit.

 

 

 

MOTIVENBERICHT:

 

Dieser Verfassungsartikel ersetzt den Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes 1867 und berücksichtigt in der Formulierung die inzwischen eingetretenen Veränderungen in Staat und Gesellschaft. Ebenso wird die Iudikatur des Verfassungs- und Verwaltungs­gerichtshofes zum Artikel 15 Staatsgrundgesetz 1867 bei der Formulierung mit­berücksichtigt.

 

Dieser neue Verfassungsartikel würde ähnlich allen staatlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften hinsichtlich der Beziehungen zum Staat gleiche Rechts­positionen einräumen, sie vor allem in die Lage versetzen, vertragliche Lösungen mit dem Staat zu suchen und einzugehen, welche dann auf staatlicher Seite den Charakter eines Bundesgesetzes haben müssen.

 

Als öffentlich-rechtlichen juristischen Personen mit der Stellung einer Körperschaft öffentlichen Rechts bedarf es für die anerkannten Kirchen der Zusicherung der Bei­tragseinhebung von ihren Mitgliedern, um grundsätzlich und ausreichend sowohl die inneren als auch die äußerlichen Angelegenheiten finanzieren zu können.

 

Der grundsätzlich angesprochene Beistand des Staates ist im Einzelnen durch Durch­führungsgesetze zu regeln, er ist sowohl ideell als auch materiell zu verstehen. Unter Beistand verstehen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften den staatlichen Schutz, die staatliche Hilfe und die staatliche Förderung der aner­kannten Kirchen und Religionsgesellschaften, umso mehr, als diese sowohl ideell als auch materiell dem Staat unschätzbare Hilfe leisten. Neben diesem gesamtstaatlichen Beitrag der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, welcher in der vorge­schlagenen Dialogklausel (analog zu Artikel I/51 Absatz 3 des Verfassungsvertrags­entwurfes der Europäischen Union) bezogen wird anerkennt die Dialogklausel auch die besondere Identität der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, die nicht unter die Nicht-Regierungs-Organisationen der Zivilgesellschaft subsummiert werden kann. Beide zu normierenden Dialogvoraussetzungen – gesamtstaatlicher Beitrag und besondere Identität – gewähren materiellen und formellen Schutz vor jeder miss­bräuchlichen Inanspruchnahme der Dialogklausel durch dazu nicht befugte Organisationsformen. Die Dialogklausel selbst definiert im Rahmen des Systems der Trennung von Kirche und Staat die freie und gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen den Dialogpartnern („freie Kirche im freien Staat“) und bildet die Grund­lage für eine erfolgreiche und friktionsfreie gemeinsame Arbeit zum Wohle aller Dialog­partner. Inhaltlich findet in der Dialogklausel u.a. das kirchliche Begutachtungsrecht gemäß § 14 Absatz 2 des Protestantengesetzes seine verfassungsrechtliche Fundierung, auf deren Basis dieses Begutachtungsrecht in Zukunft auch von allen anderen aner­kannten Kirchen und Religionsgesellschaften ohne Analogieschluss auf das Protestantengesetz ausgeübt werden kann.

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Ein weiterer Regelungsbedarf ist (vgl. Artikel 17 Absatz 4 Staatsgrundgesetz 1867) für die Erteilung des konfessionellen Religionsunterrichtes an den staatlichen Schulen gegeben.

 

Ob dieses Recht, dem auch die Verpflichtung zur Organisation und zur Abhaltung des Religionsunterrichtes gegenüber steht, in den Artikel über die konfessionelle Religions­freiheit oder in einen Artikel über das Schulwesen (Grundrecht auf Bildung) eingebaut wird, bleibt dem Ductus der verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Grundrechte vorbehalten.

 

Jedenfalls ist Sorge zu tragen, dass auch das Recht der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und Privat­schulen mit Öffentlichkeitsrecht abzuhalten, gewahrt bleibt.

 

Demgegenüber hat das Recht der Eltern bzw. der Erziehungsberechtigten zu stehen, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und welt­anschaulichen Überzeugungen für die davon betroffenen Kinder sicherzustellen. Dies­bezüglich wird auf Artikel 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur MRK verwiesen, welcher in seinem zweiten Satz dieses Grundrecht sicherstellt.

 

Diesem Grundrecht entsprechend muss auch das Recht der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sichergestellt sein, an den öffentlichen Schulen für einen kon­fessionellen Religionsunterricht Sorge zu tragen und ihn verpflichtend zu veranstalten.

 

Die Formulierung für das kollektive Grundrecht auf Veranstaltung des Religions­unter­richtes kann aus Artikel 17 Absatz 4 Staatsgrundgesetz 1867 übernommen werden.

 

Artikel 17 Absatz 4 lautet:

„Für den Religionsunterricht in den Schulen ist von der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft Sorge zu tragen.“

 

Der Wortlaut wäre bezüglich der Kirchen oder Religionsgesellschaften dahingehend zu ergänzen, dass wieder das Wort „anerkannte“ beigefügt wird. Hingegen kann die unbestimmte Bezeichnung „Schulen“ durchaus erhalten bleiben, da unter diesem Be­griff sowohl die öffentlichen Schulen als auch die privaten Schulen verstanden werden und werden können.

 

 

Wien, 23. Dezember 2003

 

 

Raoul Kneucker                              Franz Eckert                                  Walter Hagel