Theo Öhlinger

[2. Auflage 18.3.04 / A02-6.Sitzung]

 

Was soll eine Verfassungsurkunde an für den Staat und
die Gesellschaft elementaren Regelungsbereichen enthalten?

 

1. Fragestellung

Das Präsidium hat dem Ausschuss 2 u.a. die Frage gestellt, was die Verfassungsurkunde "an für den Staat und die Gesellschaft elementaren Regelungsbereichen enthalten" soll. Diese Frage soll "auf Basis der Analyse des gesamten Bestandes an formellem Verfassungsrecht und unter Bedachtnahme auf ausländische Verfassungsurkunden" beantwortet werden.

A. Verfassungsvergleichende Aspekte

Verfassungen jenes Typus, dem die geltende und wohl auch die künftige Bundesverfassung zuzuordnen sind, enthalten regelmäßig zwei – miteinander verschränkte, aber doch differenzierbare – Regelungsbereiche: die grundsätzlichen Regelungen der Staatsorganisation (in einem Bundesstaat allenfalls beschränkt auf den Gesamtstaat bzw den Bund) und Grundrechte (vgl auch die Teilung des Entwurfs eines Verfassungsvertrags der EU). Ein Bereich, der sich mit diesem Schema überschneidet, sind Aussagen über Grundprinzipien und Staatszielbestimmungen.

1. Staatsorganisation

a. Hierher gehören Festlegungen der Staatsform: Republik oder Monarchie. Sie sind regelmäßig begleitet von einer proklamatorischen Aussage über das Volk als Bezugspunkt aller staatlichen Funktionen. Dem entspricht in Österreich Art 1 B-VG, der aber heute ergänzt ist durch Verfassungsbestimmungen im Wiener Staatsvertrag.

b. Ein Strukturelement einer Verfassung des Typs einer "westlichen" Demokratie ist die Gewaltenteilung, meistens basierend auf der Unterscheidung von Legislative, Exekutive und Judikative. Demnach gibt es mehrere oberste Organe, typischerweise jedenfalls ein Parlament und eine Regierung sowie ein Staatsoberhaupt (zur Gerichtsbarkeit siehe unten).

aa. Was das Parlament betrifft, so hat eine Verfassung Aussagen zu enthalten über

-    die Struktur des Parlaments (eine oder zwei Kammern);

-    allenfalls die Zahl der Mitglieder der Kammer(n);

-    die Art der Bestellung der Mitglieder dieser Kammer(n);

-    was im Besonderen die "Volkskammer" betrifft: Aussagen über das
 Wahlsystem; doch ist dazu anzumerken, dass viele Verfassungen dabei
 sehr zurückhaltend sind (so begnügt sich zB die französische Verfassung
 mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl);

-    den Kreis der aktiv und passiv Wahlberechtigten;

-    die Amtsdauer der Kammer(n) bzw. Legislaturperiode;

-    allenfalls auch Aussagen über Sitzungsperioden und Tagungen und die
 Art und Weise ihrer Einberufung;

-    Ausschüsse (Zusammensetzung, Funktionen);

-    typisch sind auch Aussagen über besondere Rechte und Pflichten der
 Abgeordneten
(Immunität, "freies Mandat"; finanzielle Entschädigung,
 Unvereinbarkeit etc).

bb. Im Zusammenhang mit dem Parlament sind auch Aussagen über dessen Funktionen zu treffen:

-    Gesetzgebung (Grundzüge des Verfahrens wie Initiativrecht, Lesungen,
 Beurkundung, Publikation);

-    Haushaltsgesetz;

-    Mitwirkung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge;

-    Kontrollaufgaben;

-    allenfalls weitere Aufgaben/Befugnisse des Parlaments.

c. Zum Thema Regierung ist anzumerken, dass jedenfalls eine Regelung der Bestellung erforderlich ist. Regelmäßig finden sich auch Aussagen über die spezifischen Funktionen des Regierungschefs.

d. Das führt zur Frage des Verhältnisses von Parlament und Regierung: In dem für westeuropäische Verfassungen typischen parlamentarischen Regierungssystem bedarf es einer Regelung über die Abberufbarkeit der Regierung durch einen Akt des Parlaments ("Misstrauensvotum" oder äquivalente Regelung).

e. Für ein parlamentarisches Regierungssystem ist ferner die Trennung der Funktion von Regierungschef und Staatsoberhaupt wesentlich. Insofern bedarf es einer Regelung über die Bestellung, Amtsdauer und Abberufbarkeit des Staatsoberhauptes sowie über dessen Funktionen, ferner über das Zusammenwirken von Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt (Auflösungsrechte des Staatsoberhauptes, allenfalls Abwählbarkeit durch das Parlament; Vorschlagsrechte der Regierung und Gegenzeichnung etc).

Typisch sind auch Regelungen über die (eingeschränkte) Verantwortlichkeit des Staatsoberhauptes sowie Unvereinbarkeitsbestimmungen.

f. Typisch sind weiters verfassungsrechtliche Aussagen über Möglichkeiten, allenfalls auch Grenzen direkt-demokratischer Einrichtungen.

g. Verfassungen enthalten regelmäßig auch Aussagen über die Unabhängigkeit der Gerichte, allenfalls auch über Grundzüge der Organisation der Gerichtsbarkeit. Sieht man von der US-amerikanischen Bundesverfassung ab, so erscheint jedenfalls eine Regelung über die richterliche Gesetzesprüfung auf Verfassungsebene erforderlich. Eine abschließende Regelung der Aufgaben der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit nach Muster des B-VG ist dagegen atypisch.

h. Bestimmte Aussagen über die Organisation der Verwaltung unterhalb der Ebene der Regierung sind nicht typisch für eine Verfassung, finden sich aber in unterschiedlichem Ausmaß in zahlreichen Verfassungen (siehe etwa die Finnische Verfassung, §§ 119-126).

In der Mehrzahl europäischer Verfassungen finden sich auch Aussagen über das Beamtentum.

Typisch sind ferner Regelungen über das Heer.

2. Bundesstaat

Für einen Bundesstaat ist die Regelung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern essentiell. Sonderregelungen bestehen meist über die Kompetenzen auf dem Gebiet der Finanzen. Typisch sind auch Regelungen über wechselseitige Mitwirkungsmöglichkeiten an der Gesetzgebung und/oder Vollziehung der Gegenseite (wobei für den Bundesstaatsbegriff essentiell lediglich eine Mitwirkung der Gliedstaaten an der Gesetzgebung des Oberstaates ist). Untypisch sind detaillierte Regelungen über die Organisation der Landesverwaltung, ebenso über die Gemeinden (deren Regelung regelmäßig Sache der Gliedstaaten ist).

Typisch sind auch Aussagen der Bundesverfassung über Schranken der Verfassungsautonomie der Gliedstaaten (Länder), die ein gewisses – im Einzelnen freilich sehr divergierendes – Maß an Verfassungshomogenität sichern.

3. Völkerrecht und Europäische Union

Regelmäßig enthalten Verfassungen auch Aussagen über das Verhältnis zum Völkerrecht. Die österreichische Bundesverfassung (Art 9, 50 und 65 Abs 1 B-VG) entspricht in dieser Hinsicht – trotz einiger Besonderheiten (wie des "Erfüllungsvorbehaltes" oder der sehr restriktiven Möglichkeit der Übertragbarkeit staatlicher Hoheitsaufgaben auf internationale Einrichtungen) – dem Standard europäischer Verfassungen.

Fast alle Verfassungen der Mitgliedstaaten enthalten Aussagen zur EU, die aber im Einzelnen sehr unterschiedliche Aspekte betreffen. Keine Verfassung enthält jedoch auch nur annähernd so detaillierte Regelungen wie das B-VG.

4. Grundrechte und Staatsaufträge

Ein Grundrechtskatalog ist eine Selbstverständlichkeit einer rechtsstaatlich-demo­kratischen Verfassung, die Ausgestaltung im Einzelnen aber sehr variierbar. Ein einheitlicher Standard lässt sich nur im Bereich der Freiheitsrechte (liberale Grundrechte) feststellen. Umfang und Intensität der Aussagen über soziale Grundrechte differieren dagegen erheblich. Ein gewisser Maßstab wird heute durch die EU-Grundrechtecharta vorgegeben, die auch ohne Rechtsverbindlichkeit den zeitgemäßen Standard widerspiegelt.

In vielen Grundrechtekatalogen finden sich auch Regelungen, die nicht justiziabel in dem Sinn sind, dass sie unmittelbar einklagbar wären. Insofern verschwimmt die Grenze zwischen Grundrechten im engeren Sinn und Staatszielbestimmungen.

Im Übrigen gibt es keinen einheitlichen Standard bezüglich Anzahl und Umfang verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen und Staatsaufträge. Eigene Staatszielkataloge sind die Ausnahme (siehe etwa die Spanische Verfassung, Art 39-52). In der Mehrzahl der europäischen Verfassungen gibt es heute Aussagen zum Umweltschutz.

In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass sich in fast allen europäischen Verfassungen grundsätzliche Aussagen zur Staatsbürgerschaft finden.

5. Verfassungsänderungen

Jede Verfassung bedarf einer Regelung ihrer eigenen Abänderbarkeit bzw allenfalls einer Aussage über unabänderliche oder nur unter besonderen Bedingungen abänderbare Teile.

6. Resümee

Insgesamt ergibt eine verfassungsvergleichende Analyse, dass das österreichische Bundesverfassungsrecht in seinem Kern, vor allem dem B-VG selbst, im Wesentlichen dem Typus einer Verfassung im Sinne der europäisch-nordamerikanischen Tradition entspricht. Atypisch ist nur der Umfang und die Dichte einzelner Regelungsbereiche. Vom Trend neuerer Verfassungen dieses Typs abweichend sind gewisse Defizite im Grundrechtsbereich feststellbar.

B. Österreichische Verfassungstradition

Der Verfassungsvergleich ergibt aber auch die Einsicht, dass jede Verfassung eine spezielle Eigenart aufweist, die sich aus der Geschichte und der spezifischen Rechtskultur des jeweiligen Staates heraus erklären lässt. Insofern kann der Verfassungsvergleich nur einen Überblick über den Minimalgehalt einer rechtsstaatlich-demokratischen Bundesverfassung ergeben.

Aus der Sicht der österreichischen Verfassungstradition können wohl auch noch zusätzlich folgende – in der Terminologie der Fragestellung (siehe oben 1.) – "für den Staat und die Gesellschaft elementare Regelungsbereiche" aufgelistet werden:

1. Eine Aussage über das Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung im Sinne des "Legalitätsprinzips". Der Inhalt dieses Prinzips ist zweifellos variierbar, doch würde es der gesamten österreichischen Rechtstradition widersprechen, auf eine Aussage zum Verhältnis von Gesetzgebung und Vollziehung überhaupt zu verzichten. Gleiches gilt für das Weisungsprinzip im Sinne des Art 20 B-VG, auf das sich nicht nur die verfassungsrechtliche Unterscheidung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit in der österreichischen Verfassungstradition stützt, sondern dem auch ein zentraler Stellenwert in dem vom B-VG vorausgesetzten Konzept der Demokratie zukommt.

2. Typisch für eine – bereits auf die Dezemberverfassung von 1867 zurückreichende – österreichische Verfassungstradition sind auch vergleichsweise umfangreiche Aussagen über die Gerichtsbarkeit: Der Abschnitt B des 3. Hauptstückes geht in großen Teilen auf das Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt (als Teil der Dezemberverfassung von 1867) zurück und bildet heute einen wesentlichen Bestandteil des österreichischen Rechtssystems.

3. Charakteristisch für das österreichische Verfassungsrecht sind auch vergleichsweise detaillierte und zum Teil taxativ zu verstehende Regelungen über:

-    die Verfassungsgerichtsbarkeit,

-    die Verwaltungsgerichtsbarkeit einschließlich der UVS,

-    den Rechnungshof,

-    die Volksanwaltschaft.

Diese Institutionen bilden aus bundesstaatlicher Sicht "gemeinsame" Einrichtungen von Bund und Ländern, wobei es sich um eine Eigenheit des österreichischen Bundesstaates handelt, die wohl nicht ernsthaft zur Debatte steht. Schon aus diesem bundesstaatlichen Grund sollten diese Institutionen auch in Zukunft in vergleichsweise eingehender Weise auf der Ebene des Bundesverfassungsrechts geregelt bleiben.

4. Im System des österreichischen Bundesstaates kommt den Gemeinden ein allgemein anerkannter hoher Stellenwert zu. Dem entspricht eine – in rechtsvergleichender Hinsicht atypische – eingehende Regelung der Rechtsstellung, Organisation und Aufgaben der Gemeinde in der Bundesverfassung. Es ist kein Grund ersichtlich, diesen Regelungsstandard in Frage zu stellen.

5. Die Gliederung des B-VG in seiner ursprünglichen Gestalt ist in gewisser Weise durch die Systematik der Dezemberverfassung von 1867 – die sich aus fünf Staatsgrundgesetzen zusammensetzte – vorgeprägt. Diese Gliederung entspricht also einer langen Verfassungstradition, die sich aber als solche durchaus bewährt hat und zu den Vorzügen des B-VG gezählt werden kann. Es spricht insofern vieles dafür, an dieser Systematik festzuhalten. Sie bedarf freilich einer Ergänzung durch ein weiteres Hauptstück, das die Grundrechte enthält.