Johannes Schnizer                                                                                               25. Okt. 2004

 

Formulierungsvorschlag Staatshaftung

 

 

Folgender Art. 144a wird eingefügt:

 

„Artikel 144a. (1) Der Verfassungsgerichtshof erkennt über rechtswidrige Untätigkeit des Gesetzgebers bei der Erfüllung verfassungsrechtlicher Pflichten.1 Antragsberechtigt ist jede Person, die dadurch in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet und eine Feststellung der Untätigkeit nicht in einem Verfahren nach Art. 137 bis 144 erwirken kann.2 Zur Antragstellung kann der zuständige Gesetzgeber auch Amtsorgane und Organisationen berufen.3 Im Erkenntnis, mit dem der Verfassungsgerichtshof rechtswidrige Untätigkeit feststellt, kann auch Schadenersatz nach Abs. 2 erster Satz zugesprochen werden. Abs. 3 letzter Satz gilt dann sinngemäß.4

 

(2) Bund und Länder haften für den durch rechtswidrige Untätigkeit des Gesetzgebers zugefügten Schaden nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts.4a Zur Entscheidung sind die ordentlichen Gerichte unter Bindung an die Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes zuständig. Liegt noch kein Erkenntnis nach Abs. 1 vor und hält ein Gericht die Frage der rechtswidrigen Untätigkeit des Gesetzgebers für entscheidungserheblich, so hat es sein Verfahren zu unterbrechen und beim Verfassungsgerichtshof eine Entscheidung zu beantragen.5

 

(3) Soweit für den Schaden gehaftet wird,6 den der Gesetzgeber durch eine Verletzung Europäischen Gemeinschaftsrechts zugefügt hat, haften Bund und Länder7 im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Zur Entscheidung ist der Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 137 zuständig.8 Er kann sich auf die Feststellung der Rechtsverletzung oder auf die Feststellung des Schadenersatzanspruches dem Grunde nach beschränken und aussprechen, dass die Durchsetzung vor den Zivilgerichten zu erfolgen hat.9

 

(4) Soweit der Bund für den Schaden aus einem gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes oder des Obersten Gerichtshofes haftet, ist zur Entscheidung der Verfassungsgerichtshof nach Art. 137 zuständig. Abs. 3 letzter Satz gilt sinngemäß. Zur Entscheidung über die Haftung aus einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ist der Oberste Gerichtshof zuständig.10

 

(5) Die näheren Bestimmungen zu den Abs. 1 bis 4 werden bundesgesetzlich getroffen.11“

1 Die Zuständigkeit des VfGH nach Abs. 1 erfasst nicht eine bloß mangelhafte Umsetzung verfassungsrechtlicher Pflichten, sondern nur die gänzliche Untätigkeit des Gesetzgebers. Eine bloß mangelhafte Umsetzung verfassungsrechtlicher Verpflichtungen kann im Wege der Verfassungsbeschwerde oder im Wege eines Individualantrages auf Normprüfung an den Verfassungsgerichtshof herangetragen werden. Die Grenzziehung ergibt sich also daraus, ob ein Gesetzgebungsakt vorliegt, indem eine behauptete Verfassungswidrigkeit ihren Sitz hat. Gibt es keine solche Gesetzesvorschrift, obwohl eine solche zur Umsetzung einer verfassungsrechtlichen Pflicht existieren müsste, soll die Zuständigkeit nach Abs. 1 greifen. Solche Pflichten können sich einerseits aus Grundrechten ergeben, insbesondere auch aus sozialen Grundrechten, andererseits aber auch aus qualifizierten Verstößen in der Umsetzung von Aufträgen, die sich aus Staatszielen ergeben, wie etwa im Umweltschutz. Weiters kommt eine Untätigkeit des Gesetzgebers nach Aufhebung eines Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof in Betracht. Der Nachweis eines Schadens, wie er im System des Amtshaftungsrechts notwendig ist, ist für dieses Feststellungsverfahren keine Voraussetzung; ein Schadenersatzanspruch kann aber auch in einem solchen Verfahren geltend gemacht werden. Ein Verschulden des Gesetzgebers bzw. der Mitglieder der gesetzgebenden Organe ist für eine Haftung nicht erforderlich („ . . . rechtswidrige Untätigkeit“).

 

2 Die Subsidiarität der Feststellungskompetenz des VfGH wird vorgeschlagen, weil der Antragsteller oft im Weg der Anrufung des Verfassungsgerichtshofs in einem anderen Verfahren die Möglichkeit haben wird, die Säumnis des Gesetzgebers geltend zu machen. Ob dies der Fall ist, soll der VfGH als Zulässigkeitsvoraussetzung – ähnlich wie derzeit beim Individualantrag auf Gesetzes- und Verordnungsprüfung – prüfen.

 

3 Dem österreichischen Recht ist das Institut der „Verbandsklage“ etwa schon aus dem Konsumentenschutzrecht bekannt. Die konkrete Nennung der antragsberechtigten Organisationen obliegt dem einfachen Gesetzgeber. Der Begriff der Amtsorgane umfasst insbesondere jene auf Gesetz beruhenden Einrichtungen, denen spezifische Rechtsschutzaufgaben übertragen sind (zB Umweltanwaltschaften, Gleichbehandlungskommissionen, etc). Mit dem Begriff der Organisationen sollen außerhalb der Verwaltung stehende Personengruppen und Institutionen erfasst werden, die öffentliche Interessen oder stellvertretend für Andere subjektive Interessen wahrnehmen.

 

4 Schadenersatzansprüche aus rechtswidriger Untätigkeit des Gesetzgebers sollen nach Abs. 2 grundsätzlich vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden. Richtet sich eine Person aber in einem Verfahren nach Abs 1 direkt an den Verfassungsgerichtshof und macht dort einen Schaden geltend, so soll dieser ermächtigt sein, in diesem „Anlassfall“ selbst über den Ersatzanspruch zu entscheiden. Wenn es verfahrensökonomisch zweckmäßig ist, kann er den Antragsteller aber auch auf den Zivilrechtsweg verweisen. Schadenersatzansprüche aus einer Untätigkeit des Gesetzgebers, über die vom VfGH schon entschieden wurde, sollen dagegen nicht mehr bei diesem eingeklagt werden können (Abs. 2).

 

4a Allenfalls könnte die Haftung von Bund und Ländern für gesetzgeberische Untätigkeit noch davon abhängig gemacht werden, dass sie eine gesetzliche Regelung nicht binnen einer vom Verfassungsgerichtshof in einem Erkenntnis nach Abs. 1 zu setzenden Frist (etwa von 18 Monaten) erlassen haben.

 

5 Die Frage, ob der Gesetzgeber rechtswidrig untätig ist, kann sich erstmals auch in einem Haftungsverfahren nach Abs 2 oder in einem Amtshaftungsverfahren nach AHG ergeben. Für solche Fälle wird eine an § 11 AHG angelehnte Bestimmung vorgeschlagen, wonach die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Untätigkeit des Gesetzgebers zur Gänze beim Verfassungsgerichtshof liegt.

 

6 Die Formulierung „soweit ... gehaftet wird“ wurde hier gewählt, um die materiellrechtlichen Voraussetzungen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung für den Gesetzgeber unberührt zu lassen. Die vorliegende Formulierung in Abs 3 regelt nur die verantwortlichen Rechtsträger (Bund, Länder) und die Zuständigkeit zur Entscheidung über Staatshaftungsansprüche. Beides entspricht der bisherigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes.

 

7 Dass sowohl Bund als auch Länder für ihre Gesetzgeber haften sollen, entspricht der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Dies ist gemeinschaftsrechtlich nicht determiniert und soll daher ausdrücklich normiert werden.

 

8 Die Frage, ob der Gesetzgeber – auch nur durch qualifizierte Untätigkeit – gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, soll vom Verfassungsgerichtshof entschieden werden. Dies entspricht auch dem derzeit bestehenden Monopol des Verfassungsgerichtshofes auf dem Gebiet der Gesetzesprüfung (vgl Art 140 iVm Art 89 B-VG). Es geht bei der Prüfung dieses Rechtsverstoßes auch nicht um zivilrechtliche Fragestellungen, wie sie von den ordentlichen Gerichten entschieden werden. Diese sollen aber grundsätzlich zur Entscheidung über die Bemessung des Schadenersatzanspruchs selbst zuständig sein.

 

9 Bei der Schadensberechnung können sich Detailfragen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ergeben, deren Befassung die Kapazitäten des Verfassungsgerichtshofes unangemessen in Anspruch nehmen könnte. Für diesen Fall soll dem Verfassungsgerichtshof die Möglichkeit offen stehen, sich auf die Feststellung der Rechtsverletzung dem Grunde nach zu beschränken und die Kläger zur Durchsetzung auf den Rechtsweg zu verweisen. Dies orientiert sich an den – auch im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof anzuwendenden – Bestimmungen der ZPO (§ 393 Abs 1 und Abs 2). Durch die Möglichkeit, die Rechtsverletzung nur festzustellen, soll dem VfGH ermöglicht werden, auch allfällige mit dem Grund des Anspruchs zusammenhängenden Fragen, wie etwa die Kausalität für den behaupteten Schaden an die Zivilgerichte zu verweisen.

 

10 Die Bestimmung könnte vor dem Hintergrund einer Verfassungsbeschwerde insb dann Probleme aufwerfen, wenn in ein- und demselben Verfahren sowohl der OGH als auch der – gegen dessen Entscheidung angerufene – VfGH die Pflicht zur Vorlage einer bestimmten Gemein-schaftsrechtsfrage an den EuGH verneint haben. Die hier möglichen Konstellationen sind nicht völlig absehbar. In solchen Fällen wäre aber insb. fraglich, ob ein diesbezüglich vom VfGH nicht beanstandetes Urteil des OGH für den Schaden noch kausal sein kann.

 

11 Um eine Zersplitterung der Regelungen auf Bundes- und Landesrecht zu vermeiden, sollte die Zuständigkeit für Ausführungsregelungen beim Bundesgesetzgeber konzentriert werden. Dies entspricht auch der geltenden Rechtslage, sowohl beim Amtshaftungsrecht (Art 23 Abs 4 B-VG) als auch beim Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof (Art 148 B-VG). In Bezug auf die Staatshaftung nach Gemeinschaftsrecht können die bundesgesetzlichen Ausführungs-regelungen nur die notwendigen Verfahrensbestimmungen treffen. Dagegen lässt die vorge-schlagene Fassung von Abs. 3 und 4 die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Haftung unberührt, sodass auch der einfache Gesetzgeber diese nicht näher regeln kann.