Definition bzw. Auslegung des Begriffes Daseinsvorsorge

Österreichischer Städtebund

Wien, 25.3.2004

 

1. Allgemeines

In den Beratungen des Ausschuss 1 des Österreich-Konvents wurde unten angeführter Textvorschlag von Seiten des Österreichischen Städtebundes eingebracht. Im Laufe der Beratungen einigte man sich darauf, dass, wenn der Konvent zu dem Ergebnis kommt, dass neue Staatsziele in der neuen Bundesverfassung verankert werden, die Daseinsvorsorge jedenfalls zu verankern ist. Über den konkreten Textvorschlag bestand hinsichtlich der Abs. 1 und 2 Konsens, Abs.3 wurde nur von einem Teil der Mitglieder unterstützt.

Auch in den Beratungen im Ausschuss 10 wurde die Daseinsvorsorge, hier vor allem die damit verbunden Kosten der Leistungserbringung, von mehreren Seiten als ein Thema eingebracht. Der Themenbereich Daseinsvorsorge ist u.a. dadurch geprägt, dass es sehr unterschiedliche Erklärungen des Begriffes Daseinsvorsorge gibt. Das vorliegende Papier stellt den Versuch dar, unter Einbeziehung des Grünbuchs der EU zu den Leistungen im allgemeinen Interesse und den dazu ergangenen Stellungnahmen eine Begriffsdefinition bzw. –abgrenzung zu versuchen.

 

2. Textvorschlag aus dem Ausschuss 1

(1)               Bund, Länder und Gemeinden gewährleisten die Erbringung von Leistungen im allgemeinen Interesse (Daseinsvorsorge).

 

(2)               Derartige Leistungen stellen einen anerkannten, nicht diskriminierenden Mindeststandard der Teilhabe an jenen Lebensbereichen sicher, die gesellschaftlich regelmäßig vorkommen.

 

(3)               Es sind dies sowohl marktbezogene als auch nicht marktbezogene Leistungen, die so zu erbringen sind, dass dabei insbesondere die Versorgungssicherheit, die soziale Erreichbarkeit, der Verbraucherschutz, der Gesundheitsschutz und die Nachhaltigkeit sicher gestellt sind.

 

3. Erläuterungen zum vorgelegten Textvorschlag im Ausschuss 1, einschließlich Begriffserklärung und -abgrenzung

 

 

Die Verankerung der Verantwortlichkeit von Bund, Ländern und Gemeinden für die Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge in der Österreichischen Bundesverfassung soll zum Ausdruck bringen, dass die Gebietskörperschaften bestrebt sind, die von ihnen eingeführten und erbrachten Leistungen der Daseinsvorsorge auch in Zukunft aufrecht zu erhalten. Mit der Erbringung dieser Leistungen werden grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllt. Leistungen der Daseinsvorsorge stehen der gesamten Gesellschaft, also allen Bürgern zu gleichen Bedingungen zur Verfügung und werden aufgrund gemeinwohlbezogener Überlegungen erbracht. Gemeinwohlorientierte Leistungen sollen einerseits die Grundversorgung der Bevölkerung sichern, anderseits sind sie feste Bezugspunkte des Gemeinwesens und begründen die Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu diesem. Die Erbringung von Leistungen im allgemeinen Interesse und/oder deren Qualitätssicherung durch die öffentliche Hand bringen darüber hinaus auch die Verantwortlichkeit des Staates für die Ziele des Gemeinwohls zum Ausdruck.

Seit einigen Jahren wird insbesondere von der Europäischen Union (siehe etwa das Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse) und im Rahmen der GATS-Verhandlungen der Trend zur Privatisierung und Liberalisierung ("Weniger Staat, mehr Markt") mit der Begründung prolongiert, dass einerseits die Öffentliche Hand einsparen kann und anderseits das Preisniveau für die Verbraucher gesenkt werden könnte.

Beispiele aus Europa zeigen aber, dass Liberalisierungen nur dann zu Einsparungen bzw. Preissenkungen geführt haben, wenn die Definition hoher Qualitätskriterien vernachlässigt wurde.

Gerade die Leistungen der Daseinsvorsorge gehorchen jedoch hinsichtlich ihrer Aufgabenerfüllung anderen Gesetzen als den Mechanismen des Freien Marktes. Im Gegenteil, sie sind in erhöhtem Maß, Kriterien wie der Versorgungssicherheit, der Kontinuität, der sozialen Erschwinglichkeit, der Gesundheit, der Nachhaltigkeit etc verpflichtet.

Leistungen der Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Strom, Gas, Telekommunikation, Rundfunk und Postdienste, aber auch Sozial- Gesundheits- oder Bildungsleistungen sind Dienstleistungen, die als wesentlich für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft angesehen werden. Obwohl sie als wesentlich gelten, können diese Dienstleistungen sowohl von privaten als auch von öffentlichen Unternehmen oder von Bund, Ländern und Gemeinden selbst, teilweise hoheitlich, erbracht werden. Die Verfügbarkeit, der Preis und die Qualität der Leistungen der Daseinsvorsorge sind per definitionem von größter Bedeutung für die Verbraucher.

Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse unterscheiden sich insofern von normalen Dienstleistungen, als sie in den Augen des Staates auch dann erbracht werden müssen, wenn der Markt unter Umständen nicht genügend Anreize dafür bietet. Der Begriff der Leistungen der Daseinsvorsorge beruht auf dem Anliegen, überall gute und für alle erschwingliche Dienstleistungen zu gewähren. Diese Dienste tragen zur Verwirklichung der Ziele der Solidarität und Gleichbehandlung bei, die dem europäischen Gesellschaftsmodell zu Grunde liegen.

Gerade deshalb hat auch die Europäische Union die Bedeutung der Leistungen der Daseinsvorsorge anerkannt und haben sie Eingang in den Entwurf der Europäischen Verfassung gefunden.

 

Zum Textvorschlag im Detail:

 

Die Aufzählung der einzelnen Gebietskörperschaften soll zum Ausdruck bringen, dass Leistungen der Daseinsvorsorge von Bund, Ländern und Gemeinden erbracht werden und soll die entsprechenden Kompetenzen auch unterstreichen.

 

Der Begriff "gewährleisten" ist so zu verstehen, dass die zuständige Gebietskörperschaft die Leistung selbst oder durch Dritte erbringen lassen kann. Darüber hinaus ist die Öffentliche Hand aufgrund der Bedeutung dieser Leistungen dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass im Fall des Versagens der Leistungserbringung durch Dritte, der Staat die Leistungen auf jeden Fall in einer Art Reservefunktion bzw. Auffangverantwortung zu erbringen hat.

Die zuständige Gebietskörperschaft kann und muss bei jeder Leistung andere Kriterien heranziehen, um beurteilen zu können, in welcher Form sie die Leistungserbringung gewährleistet. Die Erbringung der Wasserversorgung ist anders zu beurteilen als die Telekommunikation oder der Postdienst. Im Bereich der Telekommunikation oder der Postdienste kann tatsächlich gänzlich privatisiert werden, wie dies auch bereits erfolgt ist  (auch an ausländische Unternehmen). Es reicht hier, um die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten zu können, z.B. eine Universaldienstverordnung aus, die festschreibt, dass der Anbieter eine flächendeckende Versorgung anbieten muss und der Staat evt. die Kosten durch Subventionen trägt. Im Bereich der Wasserversorgung ist nach anderen Kriterien vorzugehen, da es sich dabei um natürliche Ressourcen handelt, bzw. ein europäisches, großflächiges Netz aufgrund geographischer Hürden nicht funktionieren kann. (Trink-)Wasserversorgung bedeutet nicht nur die Leitungen/Infrastruktur zu errichten, sondern heißt im erhöhten Maße vor allem Qualitätssicherung, sprich die Versorgung mit einwandfreiem Trinkwasser und auch die soziale Erreichbarkeit zu gewährleisten. Im Bereich der Wasserversorgung ist auch der Gedanke der Nachhaltigkeit von großer Bedeutung. Im Sinne der Gewährleistungspflicht ist die Grundsicherung in diesem Bereich im Gegensatz etwa zur Versorgung mit Strom nicht durch die Errichtung und Wartung des Netzes/Leitungen erbracht.

Gewährleisten bedeutet, die Leistungen auch in entsprechender Qualität zu erbringen. Was bedeutet, dass Bund, Länder und Gemeinden sich bei der Erbringung der Leistungen - vor allem durch Dritte - einen Einfluss in der Form sichern müssen, dass, wenn die Qualität der Leistungen nachlässt, sie eine sogenannte Rückholmöglichkeit haben. Sprich, sie können die Leistungserbringung wieder an sich ziehen und selbst oder durch ein anderen, besser geeigneten  Dritten besorgen. Diese Qualitätssicherung ist gerade im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich, ferner auch in der Wasserver- und
-entsorgung unerlässlich.

 

Abs 2 soll dem Begriff "Leistungen im allgemeinen Interesse" einen Interpretationsrahmen geben.

"Leistungen im allgemeinen Interesse" ist ein unbestimmter Gesetzesbegriff, der sich aufgrund gesellschaftlicher Gegebenheiten ergibt und sich durch die fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung verändert, vom öffentlichen Diskurs bestimmt, vom einfachen Gesetzgeber beeinflusst und schließlich von Entscheidungen der Höchstgerichte ausgelegt wird.

Leistungen im allgemeinen Interesse sind Leistungen, die aus Gründen des Gemeinwohls erbracht werden. Gemeinwohl ist ein Begriff, der in der österreichischen Verfassung nicht vorkommt, der aber unter Berücksichtigung der Judikatur zum öffentlichen Interesse ausgelegt werden kann bzw. kann Gemeinwohl auch als Gegenbegriff zum Privatinteresse verstanden werden. Leistungen im allgemeinen Interesse werden insbesondere deshalb erbracht, um für die Gesellschaft eine diskriminierungsfreie Grundsicherung zu gewährleisten.

Die Erbringung von Leistungen im allgemeinen Interesse ist von dem Grundgedanken getragen, dass in jeder Gesellschaft unterschiedliche Lebensbereiche vorherrschen. Davon gibt es Lebensbereiche die so regelmäßig vorkommen, dass die Gesellschaft erwartet, dass daran jedes Mitglied der Gesellschaft auch teilnehmen darf. Derartige Lebensbereiche sind etwa die Bereiche Sozial-, Gesundheitswesen oder Kultur- und Bildungswesen oder der Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Wasser, damit verbunden aber die Entsorgung von Abwasser oder Abfällen. Ob ein Lebensbereich als anerkannt bzw. als regelmäßig vorkommend betrachtet wird ist ein dynamischer Prozess. War es vor einem Jahrhundert nicht vorstellbar, dass die ganze Bevölkerung mit Telefon, Radio oder Fernsehen ausgestattet sein wird, ist es heute anerkannt, dass jedem und jeder Telekommunikation zur Verfügung gestellt werden muss und die Benutzung dieser Medien auch eine regelmäßige Erscheinung in der Gesellschaft ist.

 

Abs 3 legt fest, welche Kriterien die einzelnen Gebietskörperschaften bei der Erbringung von Leistungen im allgemeinen Interessen zu beachten haben. Leistungen im allgemeinen Interesse sind gemäß Abs.3 so zu erbringen, dass insbesondere die Kriterien Versorgungssicherheit, soziale Erreichbarkeit, Gesundheitsschutz und die Nachhaltigkeit erfüllt sind.

 

Versorgungssicherheit bedeutet, dass die Bevölkerung darauf vertrauen kann, dass die zuständige Gebietskörperschaft nach Maßgabe unterschiedlicher Kriterien dafür Sorge trägt, dass ihr etwa Sozial-, Gesundheits-, Bildungsleistungen, Trinkwasser, Telekommunikation, Postdienste, Strom, Gas und Rundfunk zur Verfügung stehen bzw. die Abwasser- und Abfallentsorgung sichergestellt sind.

 

Soziale Erreichbarkeit, im Grünbuch zu den Leistungen von allgemeinem Interesse als Erschwinglichkeit bezeichnet, stellt klar, dass Leistungen der Daseinsvorsorge für die Bevölkerung entweder zu angemessenen und vor allem erschwinglichen Preisen (insb. bei netzgebundenen Einrichtungen) zur Verfügung stehen oder vom Staat unter Umständen unentgeltlich geleistet werden (Gesundheits- und Sozialbereich), damit sie für jedermann zugänglich sind. Besonderes Augenmerk sollte dabei den Bedürfnissen und Möglichkeiten von einkommensschwachen Personen und Randgruppen gelten. Die Anwendung des Grundsatzes der sozialen Erreichbarkeit trägt zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft bei.

Die Leistungen im allgemeinen Interesse sind auch unter Bedachtnahme auf den Gesundheitsschutz zu erbringen. Gesundheitsschutz ist ein umfassender Begriff. Bei jeder einzelnen Leistung ist nach unterschiedlichen Kriterien vorzugehen. Im Bereich der Trinkwasserversorgung etwa ist dafür Sorge zu tragen, dass im Rahmen der Gewährleistungspflicht die Versorgung der Bevölkerung mit einwandfreiem (frei von gesundheitsgefährdenden Stoffen) Trinkwasser erfolgt.

 

Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt vor allem aus dem Bereich des Umweltrechts. Das Prinzip der Nachhaltigkeit beruht auf der Erwägung, dass die den Menschen zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt sind, dass aber deren Nutzung auch künftigen Generationen ermöglicht werden soll. Die Leitidee, dass eine Befriedigung der Bedürfnisse der Gegenwart möglich sein muss, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können, schlägt sich auch in einer Vielzahl politischer Programme nieder: z.B. Agenda 21, Fünftes Aktionsprogramm der EU, Österreichischer Nationaler Umweltplan und Amsterdamer Vertrag. Seit Abschluss des Amsterdamer Vertrags sind Aktivitäten sowohl der öffentlichen Hand, als auch jene von Privaten auf ihre Nachhaltigkeit zu prüfen (Art 2 und 6 EGV, Art 2 EUV).

 

Die Unterscheidung zwischen marktbezogenen und nicht marktbezogenen Leistungen stellt einen Hinweis darauf dar, dass Leistungen im allgemeinen Interesse teilweise den Regeln des Marktes gehorchen und diesen auch weitgehend unterworfen werden können (z.b. Telekommunikation, Strom, Gas) und andere Leistungen, wie Sozial- und Gesundheitsleistungen aber anderen Regeln als denen des Marktes unterliegen. Je nach Art der Leistung muss daher die zuständige Gebietskörperschaft abwägen, ob sie die Leistung selbst erbringen muss oder ob ein Dritter diese erbringen kann.

 

 

Allfällige Rückfragen an Mag. Ulrike Schebach-Huemer, Wiener Rathaus, 1080 Wien; Tel: 01/4000/89994;
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